Die Antike

Die Begriffe «Rheuma», «Hysterie» und «Melancholie» finden bis heute Anwendung in verschiedenen Gebieten, obwohl deren Bedeutung sich wesentlich verändert hat über die Jahrhunderte. Im erweiterten, symbolhaften Sinne, könnte man sie aber als eine Art «ME/CFS-Trias» weiterhin sehr wohl betrachten. Salopp gesagt: ME/CFS ist auch in heutigem Verständnis eine Wechselwirkung zwischen Schmerz, Unterdrückung/Erstickung/Mangel/Unruhe und Überforderung/Überstimulierung. 

ALTCHINESISCHE KONZEPTE

Passagen über chronische Ermüdungs- und Schmerzzustände sind in vielen, sogar sehr alten Quellen zu finden – z.B. in altägyptischen Hieroglyphen [1], sowie altarabischen [2] und altchinesischen Rollen. Vor allem die Letzteren bieten hier eine Plethora an interessanten Konzepten, wie «Gu Zheng», wörtlich übersetzt «Syndrom der Besessenheit». [3] Heutzutage ist es auch unter Spezialisten für Traditionelle Chinesische Medizin eher wenig bekannt und wird v.A. in Verbindung gebracht mit Parasitosen. [4]Die altchinesischen Schriften berichteten hier über eine charakteristische Widerstandsfähigkeit dieser Erkrankung gegenüber den meisten Behandlungsmassnahmen. Auf die genaue Evaluation der exotischeren Quellen wird hier aber verzichtet, angesichts der unzureichenden Sprach- und Kulturkenntnisse.

Quellen

[1] «Medicine and Society in Ptolemaic Egypt”Philippa Lang
Koninklijke Brill NV, Leiden, The Netherlands, Published 2013

[2] “Ancient herbs and spices to rejuvenate and heal”Mariam Alireza
Arab News, The middle East’s Leading English Language Daily, Published February 2011
http://www.arabnews.com/node/367044

[3] “Gu Syndrome: An In-depth Interview with Heiner Fruehauf”Heiner Fruehauf, Bob Quinn, Erin Moreland
ClassicalChineseMedicine. Org, Interview vom Frühling 2008  

[4] “Driving Out Demons and Snakes: Gu Syndrome, A Forgotten Clinical Apporach to Chronic Parasitism”Heiner Fruehauf
Journal of Chinese Medicine, Published May 1998

RHEUMA

Eine wichtige, bereits in der Antike erfasste Erkrankungsgruppe, welche auf ME/CFS zumindest teilweise zutreffen könnte, bilden muskuloskelettale Probleme, welche später vorwiegend unter «Rheuma» zusammengefasst wurden. Dieser Name, wörtlich «Fluss» im Altgriechischem, wiederspiegelte einen wandernden, fliessenden Charakter diverser Schmerzen der Hart- und der Weichteile des Körpers.  

So ist bereits im Corpus hippocraticum, der Sammlung der Texte, welche dem altgriechischen «Vater der Medizin» Hippocrates zugeschrieben werden, unter anderem folgender Abschnitt zu finden: «(…) eine Erkrankung mit Fieber, schwergradigen Gelenkschmerzen, fixiert mal in einem Gelenk, dann in einem anderen (…)». [5] Derartige Beschreibung könnte aber heutzutage vielen, sehr gut charakterisierbaren Problemen zugeordnet werden wie Gicht, rhematische Arthritis oder auch Arthrose. Die heute verwendeten Begriffe wie «Rheuma» oder «Rheumatismus» wurden erst ab dem 16ten Jahrhundert spürbar propagiert (z.B. im «Liber de Rheumatismo et Pleuritide dorsalii» von Guillame de Baillou), die Konzepte entwickelten sich aber bis hin zu der heute bekannten «Rheumatologie».     

Quellen

[5] “A Historical Approach to the Nomenclature of Rheumatoid Arthritis”Lawrence C. Parish
Arthritis and Rheumatism, Vol. 6, No. 2 (April) 1963

HYSTERIE

Eine besondere Aufmerksamkeit gehört dem Begriff der «Hysterie», welcher sich über Jahrhunderte in unterschiedlichsten Anwendungen propagierte. Wahrhaft kann es heute kaum einen Mediziner, Psychiater oder Psychologen geben, welcher während seiner Ausbildung dieses Wort nicht mindestens einmal gehört hat. Die geschichtliche Rekonstruktion erweist sich aber als echte Sisyphus-Arbeit angesichts der Unmengen an Auflagerungen. Gemäss moderneren Analysen kommt das eigentliche Wort «Hysteria» im Corpus hippocraticum tatsächlich nicht einmal vor. Im Aphorismus 5.35 ist aber folgender Satz zu lesen: «Gynaiki hypo hysterikon enochloumenei».

Diese kurze Phrase, wörtlich übersetzt «Frauen unter harter Arbeit / Unterdrückung tut das Niesen gut», bereitete schon dem altgriechischen Galenus aus Pergamon (129 – 210 n.Chr.) Schwierigkeiten in der Interpretation. Das dort in deklinierter Form vorkommende Wort «hysterika» könnte seines Erachtens sowohl alle Erkrankungen des Mutterleibs implizierten (vom altgriechischen Wort «hystera» = Gebärmutter), als auch eine andere Ausdrückweise für «hysterike pnix» darstellen (wörtlich übersetzt «Erstickung der Gebärmutter»).

Wie und wann genau es zu dem eigentlichen Konzept der «Hysterie» kam, bleibt unklar. [6] Die Historiker sind meistens einig, dass es doch den Altgriechen zu verdanken ist. Vereinfacht handelte es sich um die Vorstellung, dass die Gebärmutter sich nicht nur innerhalb des weiblichen Körpers selber bewegen, aber auch wandern kann. Viele unerwünschte Verhaltensweisen und Erkrankungen wollte man auf diese Weise einem «falschen» Verhalten des Mutterleibes zuschreiben. Schnell knüpfte man hier auch an unterschiedlich verstandenes, sexuelles Verlangen sowie an den Kinderwunsch.

Besonders bildhaft beschrieb es Plato in seinem Timaios: « (…) aus denselben Gründen geht es bei den Weibern ebenso mit der sogenannten Scheide und Gebärmutter: auch diese ist (wiederum bei ihnen) ein ihnen einwohnendes lebendiges Gebilde, welches die Begierde nach Kindererzeugung in sich trägt und daher, wenn es zur Reife gelangt, lange Zeit ohne Frucht bleibt, in Aufregung und Ungeduld versetzt wird, überall hin durch den Körper und seine Säfte umtreibt, die Kanäle der Luft verstopft und somit das Atmen erschwert und die äussersten Beängstigungen und allerlei Krankheiten verursacht (…)». [7]

So zielten viele Therapien darauf, die unruhige Gebärmutter richtig zu platzieren und zu beruhigen. Es wurden unter anderem bestimmte Kräuter an unterschiedlichen Körperstellen eingerieben, welche den Mutterleib entweder anlocken oder verjagen sollten. Das Verständnis der «Hysterie» variierte von Region zu Region und vom Zeitalter zum Zeitalter, das Wort fand aber ihren dauerhaften Platz in den Wissenschaften und im Volksmund. [8]

 Quellen

[6] “Hysteria Beyond Freud”Sander Gilman
UC Press E-Book Collection, 1982 – 2004

[7] «Timaios»Platon
Aus “Platon: Sämtliche Werke VIII», Insel Taschenbuch, Published 1991

[8] “The Womb Lay Still in Ancient Egypt”Harold Merskey, Paul Potter
British Journal of Psychiatry, Published 1989; 154, 751 – 753

MELANCHOLIE

Einem weiteren Begriff aus der Antike, der Melancholie, lohnt es sich ebenfalls etwas mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Er stammt aus der sogenannten «Humorallehre», deren wesentliche Grundlagen auch dem Hippocrates und deren wesentliche Entwicklung dem Galenus aus Pyrgamon zugeschrieben wurden. Analog der «Hysterie» wird auch das Konzept der «Humorallehre» in den meisten medizinischen und psychologischen Ausbildungen, aus historischen Gründen, mindestens einmal erwähnt. Vereinfacht werden in der «Humorallehre» vier menschliche «Temperamente» unterschieden – jedes definiert durch bestimmte Persönlichkeitszüge, Verhalten, Erscheinungsbild und Neigung zu bestimmten Problemen. Jedem solchen Archetyp wurde eine der vier menschlichen «Humore», also körperlichen Flüssigkeiten / Säfte zugeteilt. Es gab den Sanguiniker («sangue» = Blut; enthusiastisch, aktiv, sozial), den Choleriker («chole» = Galle; unabhängig, entscheidungsfreudig, zielgerichtet), den Phlegmatiker («phlegma» = Schleim; entspannt, friedevoll, ruhig) und den Melancholiker («melan chole» = schwarze Galle; analytisch, detailtreu, fühlend).

Eine der wesentlichen Annahmen der «Humorallehre» war, dass der gesundheitliche Zustand von den adäquaten Mengen, Lokalisationen und Zusammenarbeit der Körpersäfte abhing. Es sei vor allem der Melancholiker gewesen, der aufgrund der Überbeschäftigung mit den Lebensinhalten deprimiert werde und zu chronischen Auslaugungszuständen neige (verstanden symbolisch z.B. als Stau / Ansammlung der schwarzen Galle). Es wurden zahlreiche Verfahren entwickelt um Ungleichgewichte zu beheben – im Fall der Melancholie empfiehl z.B. Celsus in «De Medicina» unter anderem Abrasieren der Kopfhaare und Einreibung der Glatze mit Verbena-Tinktur oder Rosenöl. [9] Es fanden aber allerlei weitere Konzepte ihre Anwendung – inklusive Astrologie und Alchemie.   

Quellen

[9] “De Medicina”Aulus Cornelius Celsus
Entstanden im 1sten Jahrhundert, erste Grossauflage im 15 Jahrhundert. 
Einzusehen unter: 
http://penelope.uchicago.edu/Thayer/E/Roman/Texts/Celsus/home.html

 

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