19. Jahrhundert

Im 19. Jahrhundert war das Thema der chronischen Erschöpfung bereits sehr häufig anzutreffen - gewissermassen als Modeerscheinung. So publizierten viele Persönlichkeiten mehr oder weniger ausführliche Texte hierzu, vor allem da es an früheren, soliden Abhandlungen fehlte. 

In den heutigen ME/CFS-Kreisen werden besonders häufig zwei Personen erwähnt - E.H. van Deusen und G. M. Beard, deren ursprüngliche Arbeiten den jetzigen Wissenszustand sehr gut wiederspiegelten aber von den Nachfolgern ironischerweise oft missverstanden wurden. 

Dr. Edwin Holmes von Deusen

In seinem ersten Artikel über «nervöse Prostration» verpflichtete sich Dr. Van Deusen zu einer weiteren Publikation, unter anderem mit einer Auflistung der wirksamen Therapien und seinen gesammelten Fallbeschreibungen.  Zu dieser Publikation schien es leider nie gekommen zu sein.

Trotzdem blieben seine Bemerkungen erstaunlich akkurat und viele ME/CFS Betroffene würden sich heute noch darin wiedererkennen. Vor allem sein Behandlungsansatz entspricht auch den heute durch die Advokaten empfohlenen Massnahmen (Frühintervention mit Ausruhen, Verstärkung der metabolischen Schwachstellen, Vermeidung der unnötigen Anstrengungen, psychosoziale Unterstützung). Auch die heutige Einsicht, dass man bei fortgeschrittenen ME/CFS-Formen die Progression eigentlich nur abbremsen und somit auf die eigentliche Heilung nicht mehr zielen kann, ist ähnlich. 

Nervöse Prostration

Im Jahr 1869 veröffentlichte E. H. Van Deusen aus dem Kalamazoo Asylum in Michigan (USA) einen Artikel über «nervöse Prostration», welche er auch alternativ mit dem schon damals älteren Namen «Neurasthenie» bezeichnete. Er schrieb: «Unsere Beobachtungen führten uns zu dem Gedanken, dass es ein Leiden des Nervensystems gibt, vom beschriebenen, essentiellen Charakter, derer Entwicklung und Progression so uniform ist, dass man zurecht von einer separaten Krankheit ausgehen kann. Obwohl, in einigen Fällen und im Bezug auf Symptome der >malarischen< Krankheit ähnlich, der Unterschied zwischen den beiden Zuständen ist ausgeprägt und leicht erkennbar». [1]

In dem obigen Artikel werden zwar Beobachtungen mit Vermutungen verflochten, gemäss der gängigen medizinischen Methodik des 19ten Jahrhunderts, die meisten ME/CFSler wären aber erstaunt über die Detailliertheit der Beschreibungen Van Deusens. Als Hauptursache bezeichnete der Author exzessive, mentale Arbeit insbesondere in Verbindung mit Ängstlichkeit und Unterernährung, postulierte aber, dass man durch Zurückverfolgung der Patientengeschichten zu unterdrückten Emotionen, Trauer, häuslichem Stress, prolongierter Unruhe, finanziellen Nöten und Scham kommt. Als weitere mögliche Auslöser bezeichnete er diverse Blutungen (Haemorrhagien), Aufenthalte in Gebieten mit Malaria sowie deprimierende Lebensumstände und Schlaflosigkeit. Er postulierte vorwiegend eine bleibende Abschwächung des Nervensystems durch prolongierte Überbelastung. So war das Erkrankungsbild v.a. anzutreffen bei Personen, welche in Malariagebieten verweilten, körperlich/psychisch anspruchsvolle Aufgaben hielten (z.B. landwirtschaftliche Arbeit) oder ein neues Leben anfangen mussten (klassisch: Einzug einer Frau zu ihrem Ehemann oder ein Umzug in ein ganz neues Gebiet). Die Erkrankung bezeichnete er als eindeutig progressiv und ohne Anzeichen einer Hypochondrie. Nach initialer Phase, meist mit allgemeiner Schwäche, verminderter Nahrungsaufnahme, Schweissausbrüchen, Schlaflosigkeit, Schwindel und vermehrter Produktion eines helleren Urins, schritt sie unerbittlich voran (dies deckte sich erstaunlich gut mit den Beschreibungen von Sir Manningham!). Zu allgemeinem Unwohlsein (Malaise) gesellte sich eine reduzierte Stimmung, Verlust des Muskeltonus, Nervenschmerzen (Neuralgien) und Blutarmut des Gehirnes (zerebrale Anämie), welche zu Überempfindlichkeit (Hyperästhesie), Irritabilität, Melancholie und Manie führten. Er erwähnte dabei auch zahlreiche Begleitsymptome, wie z.B. Kopfschmerzen, Vertrauensverlust an Menschen, absolute Alkoholunverträglichkeit, Magenverstimmung oder Schleimbeimengungen im Stuhl. In den finalen Phasen der Krankheit kam es zu weitgehender Bettlägerigkeit mit Regungslosigkeit (Stupor) und abscheulichem Geruch des Körpers und dessen Absonderungen.  Bei einzelnen, tödlichen Verläufen sei der Tod durch Erschöpfung oder infolge eines Komas erfolgt – es seien dann extensive Ergusse unter der Spinngewebshaut beobachtet worden (subarchnoidale Effusionen).

QUELLEN: 

[1] «Observations on a form of nervous prostration, (neurasthenia), culminating in insanity”E.H. Van Deusen
American Journals of Insanity, Published 25 April 1869; 25 (4): 445 – 461

Erste unkonventionelle Therapievorschläge
Van Deusen betonte die absolute Notwendigkeit der Früherkennung der Neurasthenie, da frühe Intervention die besten Resultate erzielte. Er empfiehl initiale Schonung mit Wiederherstellung der gesunden Lebensweise und moralischer Unterstützung, welche gerade in der frühen Phase oft bereits ausreichte. Besonders gepriesen hat er leichtgradige, körperliche Betätigungen (d.h. mit Vermeidung des Erschöpfungsgefühls) sowie diverse «rekreative Beschäftigungen» zwecks Ablenkung von der Invalidität. Er beschrieb auch einige Methoden der damaligen, unterstützenden Symptomkontrolle (Karbonwasser und verdünnter Champagner für den Magen, Schwammbäder für die Durchblutung, Morphium für Schmerzen, Entspannungsübungen vor dem Schlafen, Erlauben des Durchschlafens über die Morgenzeit hinaus, abkühlende oder erwärmende Massnahmen bei wechselhafter Wahrnehmung der Temperatur, Nerventonika und Kräutermischungen, tiefdosiertes Strychnin und Arsen).

In der frühen Phase der "nervösen Prostration" sah van Deussen wohl eine Heilungsmöglichkeit, in den nachfolgenden Phasen sprach er aber nur noch von ev. Aufhalten der Progression. Im Gegensatz zu vielen seiner früheren und späteren Kollegen, erschien Van Deusen auch nicht sexistisch veranlagt zu sein – er erwähnte nur die vermehrte Anfälligkeit der Frauen, schrieb sie aber einem etwas anderen Stressprofil zu.  

QUELLEN: 

[1] «Observations on a form of nervous prostration, (neurasthenia), culminating in insanity”E.H. Van Deusen
American Journals of Insanity, Published 25 April 1869; 25 (4): 445 – 461

Dr. George Miller Beard

Beard’s Arbeit vertiefte sich in den fundamentalen Charakter der polymodalen Ursachen von Neurasthenie und betonte den körperlichen Aspekt dieser Erkrankung. Er sah wie multiple Überforderungssituationen hier münden können und wie essentiell die Frühmassnahmen waren.

Eine seiner spannendsten Bemerkungen war jedoch lediglich in einem ganz kleinen Absatz zu lesen: er erwähnte, dass die Betroffenen von einer Anzahl von weiteren Krankheiten durch «Neurasthenie» geschützt werden. Als Vergleich nahm er die schon damals bekannte, erhöhte Resistenz der Opium-Raucher gegenüber Ansteckungskrankheiten.

Über ähnliches Phänomen werden auch die heutigen ME/CFS-Betroffene berichten, vor allem wenn schwergradig oder über zwei Jahre krank – die noch so üblichen Erkältungen und Grippen halten sich von diesen Personen scheinbar fern. Als spannende Ergänzung dient hier der moderne Einsatz von Opioidderivaten in Beeinflussung des Immunsystems – so scheinen heutzutage manche ME/CFS-Betroffene z.B. von tiefdosiertem Naltrexon teilweise zu profitieren.   

 

Neurasthenie

Der Artikel von Dr. George Miller Beard aus Connecticut, USA, über «Neurasthenie» erschien nur wenige Monate nach der Publikation Van Deusens.[1] In der Einführung schrieb er: «Meines Erachtens, ausser der kurzen Vermerkung durch Prof. Austin Flint in seinen ‘Principles and Practice of Medicine’, wurde diesem wichtigen Leiden des Nervensystems weder eine separate Überschrift gewürdigt, noch ein differenziertes Kapitel in unseren validierten Traktaten (…). Ich gewöhnte mich daran, den Namen ‘Neurasthenie’ zu verwenden, im Gegensatz zu der Phrase ‘nervöse Erschöpfung’, um den morbiden Zustand davon zu unterstreichen. Diese Nomenklatur schien vertretbar aufgrund der philologischen Analogie, der wissenschaftlichen Bequemlichkeit und der tatsächlichen Notwendigkeit. Der Charakter dieses Leidens (…) kann am besten verstanden werden durch einen Vergleich mit Anämie (Blutarmut). Was Blutarmut für das Kreislaufsystem ist, so ist Neurasthenie für das Nervensystem. Beide können Folgen sein von chronischen Erkrankungen und selber auch akut oder chronisch werden. So kann Neurasthenie die Auswirkung sein von zehrenden Fiebern, erschöpfenden Wunden, Gebärvorgang, prolongierter Einsperrung, Verdauungsbeschwerden, Phthisis (Tuberkulose) und Morbus Brightii (akute Nephritis). Sowohl Blutarmut, als auch Neurasthenie, können auch zu weiteren, chronischen und akuten Leiden führen. So kann Neurasthenie zu Dyspepsie, Kopfschmerzen, Paralyse, Insomnie, Neuralgie, Rheumatismus, Spermatorrhoe (Samenfluss) und menstrualen Irregularitäten führen. (…) Anämie und Neurasthenie können sich auch gegenseitig verursachen. Sowohl Anämie, als auch Neurasthenie werden am häufigsten angetroffen in zivilisierten, intellektuellen Gemeinschaften. Sie sind ein Teil der Kompensation für unseren Fortschritt und Differenziertheit.»  

Dr. Beard berichtete über zahlreiche weitre, mögliche Ursachen:  prolongierte Trauer, Stress durch die Arbeit und/oder Familie, Abtreibung, sexuelle Überaktivität, Abusus von Stimulantien und Narkotika, Pensionierung sowie «zivilisiertes Hungern» (Diäten). Er postulierte eine vielleicht sogar nur leichtgradige Veränderung des zentralen Nervensystems. Als mögliche Erklärung nannte er «Dephosphorierung» des Gehirns mit Verlust dessen «soliden Anteile», was, in Kaskade, zu grossen Auswirkungen führte. So hätten die Neurastheniker zwar ihre Leben, konnten sie aber nur auf eine «arme, sterbende Art» erfahren. Er vermerkte auch, dass die Neurasthenie die Betroffenen von vielen akuten Erkrankungen zu schützen schiene, spezifizierte aber keine. Zu den Symptomen der chronischen Form der Neurasthenie zählte Dr. Beard: Paralyse, Neuralgie, Gebärmutter-Beunruhigung bei Frauen, Dyspepsie (Verdauungsbeschwerden), Chorea («Veitstanz» - unwillkürliche, unregelmässige Bewegungen der Muskulatur), Hypochondrie, Hysterie und «tatsächlichen Wahnsinn».  In einigen Fällen würde Neurasthenie zu Tode führen, jedoch ohne direkt erfassbare Ursache, dies wäre aber selten.

QUELLEN: 

[1] “Neurasthenia, or Nervous Exhaustion”George Miller Beard
Boston Medical and Surgical Journal, 1869: 80: 217 – 221

 

Therapievorschläge

Als einzige Behandlung sah Dr. Beard einen hochverdichteten Einsatz von sämtlichen verfügbaren «Nerventonika», u.A.: frische Luft, Sonnenschein, Waser, Essen, Erholung, Abwechslung, Muskeltraining, interne Verabreichung von Substanzen wie Strychnin, Phosphor und Arsen, sowie Elektrotherapie («galvanische Behandlung»).     

 

 

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