2000+ Fusion ME/CFS

Für Puristen bezeichneten «ME» und «CFS» zwar zwei separate Krankheitsbilder, die zunehmende Anzahl der Forscher sah darin aber unterschiedliche Manifestationen des Gleichen oder Widerspiegelung der anders gewichteten, klinischen Betrachtungs-Schwerpunkte. So etablierten sich «ME» und «CFS» im Laufe der Jahre aus psychosozialen und praktisch-akademischen Gründen als austauschbare Begriffe.

Ab 2003 sprach man somit zunehmend von "ME/CFS". Da dieser Doppelname aber nicht frei von zahlreichen Altlasten war, erhoben sich immer wieder unterschiedliche Stimmen. Manche sahen in der Fusion einen Fehler, manche erwünschten sich einen vom Grund auf neuen Sammelbegriff.

So schlug das Institute of Medicine (IOM) im Jahr 2015, neben einem neuen Kriterienset, auch die "Systemic Exertion Intolerance Disease (SEID)" als neue Beziechnung vor. Dieser Name überlebt höchstwahrscheinlich nicht lange. Die IOM-Kriterien für ME/CFS 2015 hingegen, obwohl nicht perfekt, haben aber ein grosses Potenzial - sie erfassen bis ca. 90% der Betroffenen korrekt. Sie sind auch brilliant in ihrer Simplizität und werden von zahlreichen ME/CFS-Spezialisten zunehmend bevorzugt, vorwiegend im klinischen Setting. Sie sind auch ein hervorragender Ausgangspunkt für Neueinsteiger ins Thema.

 

2003: Kanadische Konsenskriterien für ME/CFS (CCC 2003)

 Der Doppel-Name «ME/CFS» tauchte offiziell zum ersten Mal im Kanadischen Konsensus aus dem Jahr 2003 [1] auf und ist am besten als operativer Traditionsbegriff zu verstehen. Er verbindet das unspezifische Leitsymptom mit einem ernst klingenden und neurologisch angehauchten Namen, überbrückt amerikanische und britische Ansichten und macht über 100 (!) frühere Alternativbegriffe [2] vorerst obsolet. Dies erhöht die Erkennungsrate und macht weitere Forschungsarbeiten leichter – die vorherige Forschung fand vorwiegend unter einem der beiden Namen statt. Eine ev. notwendige Differenzierung der Subtypten anhand des neuen Wissens kann auch später weiterhin stattfinden.

Die Autoren des Konsensus um Bruce M. Carruthers versuchten die zahlreichen Haupt- und Nebensymptome den unterschiedlichen, medizinischen Systemachsen zuzuschreiben um ein praktischer gewichtetes, klinisches Werkzeug zur Diagnosestellung anzubieten. Die Hauptachsen waren: Erschöpfung, postexertionelle Malaise (PEM), unerholsamer Schlaf, Schmerzen und neurologische / kognitive Manifestationen. Zu den Nebenachsen gehörten: Dysfunktionen des autonomen Nervensystems, Veränderungen der neurohormonellen Regulation und immunologische Abnormalitäten. Zusätzlich wurden zahlreiche Begleiterkrankungen aufgelistet, nach welchen man gezielt suchen sollte (wie Fibormyalgie, myofasziale Spannungsschmerzen und Reizdarmsyndrom).

QUELLEN: 

[1] “Myalgic Encephalomyleitis / Chronic Fatigue Syndrome: Clinical Working Case Definition, Diagnostic and Treatment Protocols”Bruce M. Carruthers MD et al.
Journal of Chronic Fatigue Syndrome, Vol 11 (1) 2003

[2] “The disease of a thousand names: CFIDS/CFS/IDS”David S. Bell
Pollard Publications 1st edition. Published 1991.

2011: Internationale Konsensuskriterien für ME (ICC 2011)

Die «Kanadischen Konsensus-Kriterien für ME/CFS 2003» lieferten als ersten ein plausibles Bild des systemischen Charakters von ME/CFS und dienten als Grundlage für eine weitere Entwicklung im Jahr 2011 – diesmal handelte es sich um eine internationale Kollaboration, jedoch weiterhin um den gleichen Hauptautor – Bruce M. Carruthers.[3]

Die Autoren der ICC-Kriterien 2011 haben sich aus unterschiedlichen Gründen entschieden, den Begriff "ME" vorzuziehen und "CFS" als eine separate Erkrankung anzusehen, welche eher den Kriteriensets vor dem Jahr 2000 entsprach. 

Das Konzept der postexertionellen Malaise wurde ausgebaut und umbenannt. Man sprach hier von «postexertioneller neuroimmunologischer Erschöpfung (PENE)» - die jeweiligen Verschlechterungen der Betroffenen nach körperlichen Belastungen korrelierten mit Veränderungen der Neurologie, des hormonellen Haushaltes und der abnormalen Funktion des Abwehrsystems. Neben PENE, brauchte es für die Diagnosestellung "ME" eine bestimmte Kombination von allerlei möglichen Symptomen innerhalb der folgenden Hauptkategorien:

  • NEUROLOGIE- Beeinträchtigung der Kognition (Denken)
    - Schmerz
    - Veränderung des Schlafes
    - Beeinträchtigung der Sensomotorik (Wahrnehmung und Bewegung)

  • ABWEHRSYSTEM / MAGEN-DARM-TRAKT / FORTPFLANZUNGS- UND HARNTRAKT
    - Krankheitsgefühl
    - Anfälligkeiten gegenüber Infekte
    - Allergien / Unverträglichkeiten
    - Magen-Darm-Beschwerden
    - Harntrakt-Beschwerden

  • ENERGIEHAUSHALT
    - Anpassungsstörungen des Herz-Kreislauf-Systems
    - Störungen des Atemapparates
    - Veränderte Temperatur-Regulation

Die internationalen Konsensuskriterien für ME (ICC 2011) lieferten ebenfalls eine ausführliche Liste der häufigen Begleiterkrankungen und gingen auch vermehrt auf die Besonderheiten der durch ME-betroffenen Kindern ein. So wurde der ICC 2011 klinisch das umfangsreichste Werk überhaupt. Angesichts dieses Umfangs gestaltete sich die Anwendung im Alltag aber schwieriger als initial angestrebt. ICC 2011 wird somit, analog dem CCC 2003, von vielen Klinikern als wenig zumutbar betrachtet.  

QUELLEN: 

[3] «2011: Myalgic encephalyomelitis: Internation Consensus Criteria»Bruce M. Carruthers et al.
Journal of Internal Medicine, Published Oct 2011; 270 (4): 327 – 338

 

2015: Kriterien nach dem Institute of Medicine (IOM 2015)

Um weitere Faktenexplosionen zu verhindern und einen übersichtlichen, gemeinsamen Nenner für die Kliniker zu finden, engagierte man schliesslich das amerikanische Institute of Medicine. Die delegierte Arbeitsgruppe um Ellen Wright Clayton analysierte insgesamt über 9000 bis dahin verfügbare Artikel zum Thema «ME», «CFS, «ME/CFS» und verwandten Begriffen und veröffentlichte im Jahr 2015 eine hervorragende, übersichtliche Synthese. [4] ME/CFS wurde hier als eine durch Überbelastung (Stress, Trauma, Infektion) induzierte, multisystemische Erkrankung definiert, welche man schnell und praktisch anhand von 3 Haupt- und 2 Nebensymptomen diagnostizierten kann:

  • SUBSTANTIELLER FUNKTIONSVERLUST MIT/BEI CHRONISCHER ERSCHÖPFUNG (der früher normale Alltag wird nicht mehr bewältigbar)

  • POSTEXERTIONELLE MALAISE (Verschlechterung des Allgemeinzustands nach früher unproblematischen Belastungen)

  • UNERHOLSAMER SCHLAF (der Schlaf wirkt nicht mehr erfrischend)

  • ORTHOSTATISCHE INTOLERANZ (Verschlechterung des Allgemeinzustands in der aufrechten Körperhaltung)

  • KOGNITIVE DYSFUNKTION (früher unproblematische, geistige Prozesse werden erschwert)

QUELLEN: 

[4] “Beyond Myalgic Encephalomyelitis / Chronic Fatigue Syndrome: Redefining an Illness” Ellen Wright Clayton et al.
Institute of Medicine (of The National Academies), Published 2015.
Einsehbar unter: 
www.nap.edu
PMID: 25695122, ISBN-13: 978-0-309-31689-7, ISBN-10: 0-309-31689-8

 

Systemic Exertion Intolerance Disease (SEID)

Als weiteren Beitrag der IOM-Arbeitsgruppe ist ein neuer Namensvorschlag zu erwähnen. «Myaglsiche Enzephaloymelitis» und «Chronic Fatigue Syndrome» waren bereits länger ein Spannungsfeld gewesen, und ein neuer, von Altlasten befreiter Dachbegriff schien notwendig. Vorgeschlagen wurde die «Systemic Exertion Intolerance Disease / SEID» («Systemischen Anstrengungs-Intoleranz-Erkrankung»). Dieser Name wurde aber weitgehend abgelehnt – «ME/CFS» fing sich erstmal besser zu verwurzeln, und «SEID» hörte sich eher an wie eine schlaue Bezeichnung für die Abneigungen gegenüber körperliche Arbeit.

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