Mit letzter Kraft

Rudolf Blatter leidet am chronischen Erschöpfungssyndrom (CFS). Die Krankheit nimmt ihm alles, was ihn ausmacht: den Sport, seinen Job, die Zuversicht.


Von Jasmine Helbling, für den Beobachter

Originalartikel

Bild: Andreas Gefe

Bild: Andreas Gefe

Rudolf Blatter lebt in einem hübschen Gefängnis. In einem Quartier mit getrimmten Gärten und Häusern, die einander wie Zwillinge gleichen. Bei klarem Wetter sieht er die Bergspitzen, die er früher erklomm. Dann lässt er den Blick über die Gipfel wandern, weil sein Körper das nicht mehr kann. Meist liegt er drinnen und sehnt sich nach draussen. Zurück in den Klettergurt, auf den Velosattel, in die Laufschuhe. Zu all den Hobbys, die seine Krankheit verjagt hat. Aus seinem Leben, so klein, dass es nun in vier Wände passt.

Der 53-jährige Berner ist hundemüde. Selbst morgens, wenn er die Augen aufschlägt. Seine Müdigkeit ist nicht mit der von Gesunden vergleichbar. Sie lähmt den Körper, betäubt den Kopf und schwächt die Muskeln. Oft fröstelt Blatter, fühlt sich benommen, krank. Am schlimmsten ist sein Hals. «Früher war ich zuverlässig und organisiert. Heute gehe ich irgendwohin und weiss plötzlich nicht mehr, was ich da wollte», flüstert er mit belegter Stimme. Sie will nicht passen, zum Mann mit den breiten Schultern. Seit fast zehn Jahren leidet Rudolf Blatter am Chronic Fatigue Syndrome (CFS).

Seine Krankengeschichte beginnt 1993, als sich die Stirnhöhlen zum ersten Mal entzünden. In den Jahren darauf wird der Zustand chronisch. Blatter wird dreimal operiert, keiner der Eingriffe hilft langfristig. Über sieben Jahre hinweg schluckt er immer wieder Antibiotika. Im März 2011 gesellt sich zu den Schmerzen eine extreme Erschöpfung. Die Ärzte finden Pilze in Blatters Blut. Epstein-Barr, Herpes und weitere Viren, für die es keine Erklärung gibt. Dass etwas nicht stimmt, ist klar. Zuständig fühlt sich aber niemand. Vier Jahre zieht Blatter von Praxis zu Praxis. Zu Schmerzspezialisten, Virologinnen, Neurologen, Immunologinnen und Rheumatologen. Zu Homöopathinnen, Kinesiologen und Handauflegerinnen. «Irgendwann greift man nach jedem Strohhalm, ganz egal, woran man glaubt», sagt er.

Weniger Verantwortung, weniger Lohn.

Morgens schleppt er sich ins Büro, als ob nichts wäre. Blatter ist ein ruhiger, ernsthafter Mann, der sich nicht beschwert. Nur seine Frau und die drei Kinder wissen Bescheid. «Damals war ich Chef einer Spezialeinheit bei der Bundesverwaltung. Ich hatte viel Stress und konnte mir keine Pause leisten.» 2015 fällt er aus, weil es nicht mehr geht. Fast schon schämt er sich dafür.

Die Müdigkeit lähmt den Körper, betäubt
den Kopf, schwächt die Muskeln.

Als er sechs Monate später zurückkehrt, zeigen alle Verständnis. Blatter ist seit zwölf Jahren dabei, man kennt und schätzt ihn. Den eigenen Ansprüchen wird er aber nicht mehr gerecht: «Ich war zu wenig ‹zwäg›, also liess ich mich intern versetzen.» Weniger Verantwortung, zwei Lohnklassen tiefer. Die nächsten Jahre sind ein Auf und ein Ab. Im Winter leidet Blatter, im Sommer erholt er sich. 2017 fällt er erneut vier Monate aus.

Blatter vermisst die Bewegung. Sobald es ihm besser geht, muss er raus. Doch beim Rennen schiesst der Puls in die Höhe. Plötzlich hat er starke Kopfschmerzen und feuerrote Ohren. Die extreme Erschöpfung und noch schlimmere Schmerzen kommen verzögert, halten manchmal wochenlang an. Als er nicht mehr joggen kann, trainiert Blatter an Fitnessgeräten. Aber auch das «Chräftele» tut ihm nicht gut. Am Velo hält er am längsten fest. Als er im Sommer 2018 eine gute Phase hat, kann er fast ohne Beschwerden biken. Der Berner ist euphorisch, vielleicht ein bisschen zu sehr. Er meldet sich für ein Velo-Cross-Rennen im Herbst an, es wird sein letztes. Unterwegs stechen die Knie, drei Tage später kann er kaum noch aufstehen. «Von da an ging es nur noch ‹nidsi›.» Einen Monat schleppt sich Blatter noch zur Arbeit, dann geht auch das nicht mehr.

Was stimmt nicht?

Stück für Stück verliert er all die Dinge, die ihn ausmachen. Um nicht zu verzweifeln, braucht er Hobbys. Doch was bleibt? Fischen? Schnell zeigt sich, dass er nicht lange stehen kann. Schiessen? Eine Weile geht das gut: hinfahren, eine halbe Stunde schiessen, zurückfahren. Doch dann darf er nicht mehr Auto fahren, sagen die Ärzte. Und jetzt? «Jetzt mache ich eigentlich gar nichts mehr.» Blatter lacht, obwohl daran so gar nichts lustig ist. «Das ist doch alles absurd.»

Psychisch geht es ihm erstaunlich gut. Das sagt der Psychologe, den er nur einmal besucht. Trotzdem verzweifelt er von Zeit zu Zeit. «Ich war immer der Fels in meiner Familie und habe alles organisiert. Jetzt ‹chrampft› meine Frau.» Das belastet ihn enorm. Er hat Schuldgefühle, will seiner Familie nicht zur Last fallen. «Meine Tochter hat einmal einen Aufsatz darüber geschrieben, wie sehr ich mich verändert habe. Der hier, der bin nicht ich.»Immer wieder fragt er sich, was mit seinem Körper nicht stimmt. Dann stösst er beim Recherchieren auf das Erschöpfungssyndrom, auch Myalgische Enzephalomyelitis (ME) genannt. Eine schwere neuroimmunologische Erkrankung, die oft zu einem hohen Grad körperlicher Behinderung führt. Von 1000 Personen sind zwei bis vier betroffen. 25 Prozent werden dauerhaft bettlägerig, nur 40 Prozent können weiterhin arbeiten.

Beim Joggen schiesst der Puls in die Höhe, plötzlich schmerzt der Kopf.

Die Ursachen sind ungeklärt. Einige Experten vermuten, dass CFS durch Infektionskrankheiten wie das Epstein-Barr-Virus oder Herpes ausgelöst wird. Andere verdächtigen Immunfehlfunktionen, genetische Vorbelastungen oder einschneidende Lebenserfahrungen. Die Symptome ähneln vielen anderen Krankheitsbildern, die systematisch ausgeschlossen werden müssen. Zu einer Diagnose kommt es in den meisten Fällen spät oder gar nicht.Wieder klappert Blatter Ärzte ab. Sie haben wenig Erfahrung mit der Krankheit, sind aber interessiert. Nach diversen Tests deutet im Januar 2019 alles auf CFS hin. Blatter ist erleichtert und gleichzeitig frustriert: Meist lassen sich Symptome bloss lindern. Zudem gilt CFS als schwer objektivierbar, das Abklärungsverfahren der IV verläuft oft holprig. In einem Fall aus dem Jahr 2008 hielt das Bundesgericht fest, dass die Krankheit «mit einer zumutbaren Willensanstrengung» überwindbar sei. Auf dieses Urteil berief sich die IV mehrfach.

Rücksicht gibts keine.

Blatter bereitet sich vor, so gut er kann. Listet seine Symptome auf, legt die Berichte der Ärzte ab. Lange muss er warten, dann wird er für acht Untersuchungen beim Ärztlichen Begutachtungsinstitut (ABI) in Basel aufgeboten. Die ersten vier Abklärungen finden im Mai statt, alle am selben Tag. Sein Hausarzt findet das eine Zumutung, die IV durchaus machbar. Zwischen den Untersuchungen muss sich Blatter vor lauter Erschöpfung hinlegen. Mitte Juni befragt ihn eine Neuropsychologin vier Stunden – ohne Pause, trotz starken Kopfschmerzen. «Ich fühlte mich wie bei einem Verhör: Es gab kein Lächeln, kein Mitgefühl, kein Interesse.» Nach dem Termin liegt Blatter tagelang im Bett und muss den nächsten verschieben. Mitte Juli verbringt er für eine 20-minütige Untersuchung vier Stunden im Auto. Rücksicht nimmt niemand, CFS wird nicht einmal thematisiert.

Nicht verzweifeln, positiv bleiben.

«Ich bin enttäuscht. Nie hätte ich gedacht, dass so etwas in der Schweiz überhaupt möglich ist», sagt der 53-Jährige.Parallel zum Verfahren lässt er sich am Inselspital untersuchen. Die Einschätzung eines Universitätsspitals hat viel Gewicht – und sie fällt eindeutig aus: «Der Patient erfüllt alle internationalen Kriterien für die Diagnose einer ME/CFS. Eine zusätzliche Erkrankung, die die Beschwerden erklären würde, konnte nicht identifiziert werden.» Blatter sendet den Bericht an die IV – zusammen mit den Schreiben der Ärzte, die ihn über all die Jahre hinweg behandelt haben.

Ende September, drei Monate später als versprochen, erreicht ihn die Einschätzung des ABI. Acht Ärzte sind sich einig, dass Blatter zu 90 Prozent arbeitsfähig ist. «Sie schreiben, ich sei in meinem Job wohl überfordert gewesen und hätte das körperlich kompensiert. Das ist absoluter Schwachsinn. Im neuen Job nach der Kaderstelle war ich eher unterfordert – und doch zufrieden. Das hat meine Chefin in einem Schreiben an die IV-Stelle bestätigt.»

Auf das Erschöpfungssyndrom wird im Bericht nicht eingegangen. Der Entscheid der IV steht noch aus. Ab November bekommt Blatter keinen Lohn mehr. Was seine Frau verdient, reicht niemals aus.

Positiv bleiben – das ist alles, was er tun kann. Warten, warten, nicht verzweifeln. Wenn er fit genug ist, geht er einmal im Monat mit den «Jungs» jassen, einmal Fondue essen. Das tut seiner Gesundheit nicht gut, aber seiner Psyche. An schlechten Tagen meditiert er und redet sich ein, dass alles nicht so schlimm ist. Lügt sich sein Gefängnis schön. An guten Tagen spaziert er ein paar Schritte mit dem Hund, manchmal kocht er den Zmittag für seine Frau. Die restliche Zeit verbringt er dafür im Bett – Blatter kennt seine Kompromisse. 

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