Wenn die Müdigkeit nie mehr vergeht

– Tagblatt der Stadt Zürich –

Die Müdigkeit sieht man ihr nicht an. «Ich bin kein Typ für Augenringe», sagt Nicole Spillmann Al Kumrawi und streichelt ihrer Tochter Lina durchs dunkle lockige Haar. Die Kleine ist 14 Monate alt und hält ihr Mami ganz schön auf Trab. Nicole Spillmann ist dankbar, dass sie heute eine eigene Familie haben darf. In der schlimmsten Zeit ihres Lebens, als sie fast gar nichts mehr machen konnte ausser schlafen, hätte sie sich nicht einmal vorzustellen gewagt, wie es wäre, Mann und Kind zu haben und Verantwortung zu tragen. Damals hat sie sich nur gewünscht, dass diese bleierne Müdigkeit endlich aufhört. Die 37-Jährige leidet am Chronischen Erschöpfungssyndrom (CFS).

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Sie fühlte sich schlagartig krank

Nicole Spillmann mochte es, für andere da zu sein, zu helfen. Deshalb wurde sie Kinderkrankenschwester im Kinderspital Zürich. Mit 30 war sie eine glückliche Singlefrau, stand mitten im Leben und suchte nach einer neuen Herausforderung. Sie begann, Soziale Arbeit zu studieren. Doch nach dem ersten Studienjahr wurde sie schlagartig krank. «Ich hatte eine strenge Zeit hinter mir, war angespannt », erinnert sie sich. Die Umstellung von der selbstständigen Pflegefachfrau zur Studentin mit wenig Geld und der intensive Stundenplan hatten viel von ihr abverlangt. Um aufzutanken, gönnte sie sich im Sommer 2005 ein paar Tage Erholung in der Innerschweiz bei einer befreundeten Bergbauernfamilie. «Wir gingen zusammen spazieren, einen Hang hinauf, da fühlte ich mich plötzlich schlapp.» Ihr Zustand verschlechterte sich rapide, sie schwitzte und fror abwechselnd und dachte an den Beginn einer Grippe. Daheim in Zürich bekam sie Fieberschübe, Hals- und Kopfschmerzen. Der Arzt vermutete das Pfeiffer'sche Drüsenfieber und verschrieb ihr Bettruhe. Doch Nicole Spillmann ging es nicht besser. Sie war damals mittendrin in einem Praktikum mit Suchtmittelabhängigen, die Grippesymptome zerrten an ihrer Energie. Alle zwei, drei Wochen lag sie wieder für ein paar Tage krank im Bett. «Das war eine schlimme Zeit, weil ich nicht wusste, was mit mir los war. Ich kämpfte mich durch den Tag.»

Die starken Kopf- und Halsschmerzen quälten sie ein halbes Jahr lang. Und es kam noch schlimmer: Sie litt unter Magen-Darm-Problemen, Muskelschmerzen, Herzrasen. Durch die Müdigkeit war sie dünnhäutig, brach immer wieder scheinbar grundlos in Weinkrämpfe aus. Hinzu kam eine lähmende geistige und körperliche Erschöpfung, die sie aus der Bahn warf. «Auch nach 14 Stunden Schlaf fühlte ich mich wie vom Lastwagen überfahren. »

Freunde treffen konnte sie bald nicht mehr. Denn wenn sie mit ihnen ein Glas Prosecco trank, fühlte sie sich danach tagelang krank. «Bei übermässiger Aktivität und Überanstrengung verschlimmerte sich mein Zustand», erzählt Spillmann. Ihr Umfeld reagierte wenig verständnisvoll. Weil sie sich nicht mehr konzentrieren konnte, musste sie ihr Studium für ein halbes Jahr unterbrechen. Aus Verzweiflung wies sie sich selber ins Spital ein. Doch die Ärzte konnten keine körperliche Ursache für ihre Beschwerden finden. «Niemand nahm mich ernst. Ein Arzt wollte mich sogar zum Psychiater schicken», erzählt sie aufgewühlt. Doch so wie ihr ergeht es vielen CFS-Betroffenen. «In der Schweiz gibt es zu wenig Ärzte, die sich mit dieser zerstörerischen Krankheit auskennen. Wir werden als Hypochonder abgestempelt und falsch behandelt. »

Nicole Spillmann beteuert, dass sie nie einen Grund gehabt hätte, sich die Krankheit einzubilden oder damit Aufmerksamkeit zu erheischen. So ein Mensch sei sie nicht. «Ich war glücklich mit meinem Leben, hatte viele Träume.»

Machtlos gegen mysteriöses Leiden

Für das Chronische Erschöpfungssyndrom gibt es unterschiedliche Bezeichnungen. Es wird einerseits CFS (Chronic Fatigue Syndrome) genannt, aber auch ME (Myalgische Enzephalomyelitis). Es handelt sich um eine schwere chronische Krankheit, die Mediziner vor ein Rätsel stellt. Denn die Symptome sind vielfältig, und die Krankheit kann nur durch eine Ausschlussdiagnose festgestellt werden. Forscher glauben heute, dass es sich um eine Multisystemerkrankung handelt – ein Chaos in der Immunabwehr. Die extremste Form führt sogar dazu, dass manch Betroffener gar nicht mehr in der Lage ist, das Bett zu verlassen. CFS tritt häufig bei Personen auf, die eine schwere Krankheit oder einen Unfall hatten, kann aber auch gesunde Menschen wie Nicole Spillmann treffen. Frauen leiden etwa viermal häufiger unter der Krankheit als Männer und sind im Durchschnitt zwischen 29 und 45 Jahre alt. Kürzlich erschien im «Blick» ein Artikel über den 27-jährigen schwedischen Weltspitze-Tennisspieler Robin Söderling. Er leidet an einer schweren Erschöpfung und bangt um seine Karriere. Seine Ärzte befürchten, dass er ebenfalls am CFS erkrankt ist. Die Krankheit ist nicht zu verwechseln mit dem Burn-out-Syndrom, wo Menschen durch Stress und Überlastung ausgebrannt sind. Denn dieses lässt sich in der Regel gut behandeln, Ruhe kann helfen.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ordnet die Krankheit unter postvirales Erschöpfungssyndrom ein. 2003 wurde in Kanada die erste klinische Definition für CFS entwickelt. In der Schweiz existiert seit 20 Jahren ein Verein mit Selbsthilfegruppen für Betroffene. Als Präsidentin dieses Vereins will Nicole Spillmann erreichen, dass sich die Situation für CFS-Betroffene ändert, es mehr Forschung und Aufklärung gibt. Sie ist auf der Suche nach Medizinern, die sich mit der Krankheit auskennen und ihre Adresse zur Verfügung stellen, damit sie Betroffenen weitergeleitet werden können. «Ich möchte anderen die zermürbende Ärzte-Odyssee ersparen. »

Jeder Tag ist ein Kampf

Nicole Spillmann hatte Glück im Unglück. Die Kopf- und Halsschmerzen klangen nach einem Jahr ab, und ohne viele Therapien ging es ihr allmählich wieder besser. Sie konnte ihr Studium zu Ende bringen und sich den Traum einer Weltreise erfüllen. In einem Internetcafé in Kuala Lumpur lernte sie ihren heutigen Mann, einen Iraker, kennen. Die beiden leben mit ihrer Tochter in der Nähe des Irchelparks. Nicole Spillmann arbeitet 70 Prozent als Sozialpädagogin in einem Blindenwohnheim und hält die Familie zusammen, denn ihr Mann hat noch keinen Job gefunden. «Ich leiste einiges mehr als viele Betroffene, und ich weiss, dass ich meine Grenzen beachten muss.» Doch die Müdigkeit ist ihr treuster Begleiter. Sie fühlt sich jeden Tag so, als hätte sie zu wenig geschlafen. «Ich muss mich zusammenreissen, seit sieben Jahren, Tag für Tag. Aber meine kleine Familie ist mein grosses Glück, dafür kämpfe ich.»