Eine halbe Million Long-Covid-Erkrankte warten auf Hilfe – Zürich soll nun vorangehen
Fabienne Sennhauser, Tagesanzeiger.ch
Kein Test, kein Medikament: Patientinnen und Patienten mit chronischer Erschöpfung werden oft nicht ernst genommen. Eine breite Politallianz fordert nun eine rasche koordinierte Versorgung.
In Kürze:
Die Fallzahlen von Myalgische Enzephalomyelitis/Chronische-Fatigue-Syndrom (kurz ME/CFS) haben sich seit der Coronapandemie landesweit verdoppelt.
Ein breit abgestütztes Postulat fordert nun eine koordinierte Versorgung der ME/CFS-Patienten im Kanton Zürich.
Mobile Spezialistenteams sollen künftig Betroffene in ihrem persönlichen Umfeld unterstützen.
Fachleute schätzen die volkswirtschaftlichen Kosten der Erkrankungen als sehr hoch ein.
Nicole Spillmann ist Präsidentin des Vereins ME/CFS Schweiz.
Ständige Erschöpfung, Schmerzen und ein völliger Zusammenbruch schon nach kleinster Anstrengung: Myalgische Enzephalomyelitis/Chronische-Fatigue-Syndrom (kurz ME/CFS) ist eine schwere Erkrankung, die das Leben der Betroffenen grundlegend verändert. Arbeiten, Freunde treffen oder selbst das Lesen eines Buches kann zur kaum bewältigbaren Herausforderung werden.
Die Krankheit ist oft eine Folge eines viralen Infekts wie einer Grippe oder auch von Covid-19. Die Fallzahlen in der Schweiz haben sich seit dem Ausbruch der Coronapandemie denn auch verdoppelt. Gemäss aktuellen Schätzungen leiden über 60’000 Menschen am Chronische-Fatigue-Syndrom. Etwa 450’000 Personen leben mit Long Covid. Rund 70 Prozent der Betroffenen sind Frauen.
Das ME/CFS ist nach wie vor nur wenig erforscht. So gibt es keinen Test, der die Krankheiten zweifelsfrei nachweist. Ebenso gibt es kein Medikament, das Heilung verspricht. Lediglich die Symptome können medikamentös behandelt werden. Die Erkrankung ist aber nicht Teil des Medizinstudiums.
Die Folge: Viele Betroffene erleben eine Banalisierung und Stigmatisierung. Ihre Krankheit sei «doch nur psychisch».
Es sind Sätze wie dieser, die gemäss Renata Grünenfelder das Leid der Erkranken noch verstärken. Die diplomierte Expertin Notfallpflege und SP-Kantonsrätin hat schon mehrfach erlebt, wie Angehörige ihr erwachsenes, krankes Kind oder ihren kranken Partner in die Notfallaufnahme des Universitätsspitals Zürich brachten. «Sie sind am Rande der Verzweiflung, weil es ihren Liebsten immer schlechter geht und sie sich völlig im Stich gelassen fühlen.»
Darum wird Grünenfelder nun politisch aktiv. Gemeinsam mit weiteren Kantonsratsmitgliedern von AL, EVP, Grüne und GLP hat Grünenfelder am Montag ein Postulat eingereicht. Die Forderung: eine kantonsweit koordinierte Versorgung von Menschen mit ME/CFS und Long Covid.
Kanton Zürich soll nicht auf nationale Strategie warten
Grünenfelder nimmt den Ball von Bundesebene auf. National- und Ständerat haben kürzlich die Ausarbeitung einer nationalen Strategie beschlossen. Das erklärte Ziel: allen am Fatigue-Syndrom und an Long Covid Erkrankten eine überall gleich gute Behandlung und finanzielle Unterstützung zu sichern. Ausserdem soll die Forschung gestärkt werden.
2026 will der Bund die Arbeit an der Strategie beginnen. Sie soll im ersten Halbjahr 2027 vorliegen. Die Umsetzung wird dann in der Verantwortung der Kantone und Gemeinden stehen. So lange will Renata Grünenfelder nicht warten: «Der Kanton Zürich hat jetzt die Gelegenheit, ein Vorzeigekanton zu werden.» Das sei man den geschätzt 80’000 Long-Covid-Betroffenen und den rund 7000 ME/CFS-Patienten schuldig.
Der SP-Kantonsrätin schwebt etwa der Aufbau von mobilen spezialisierten Teams vor, die flächendeckend im Kanton unterwegs sind und die Patientinnen und Patienten in ihrem Zuhause unterstützen – und zwar sowohl medizinisch als auch im Umgang mit Ämtern und Versicherungen.
ME/CFS-Patienten kosteten Deutschland 2024 63 Milliarden
Für ihren Vorstoss hat sich Renata Grünenfelder mit Nicole Spillmann ausgetauscht. Die Zürcherin ist Präsidentin des Vereins ME/CFS Schweiz und arbeitet als Fachverantwortliche bei der privaten Spitex «Herzenssache», die sich unter anderem auf die Pflege im Bereich Long Covid und ME/CFS spezialisiert hat. Die Annahme der nationalen Strategie sei ein «extrem wichtiger Schritt für die Anerkennung dieser Erkrankungen». Aber es dürften nun nicht mehr Jahre vergehen, bis endlich etwas passiere.
Ein erster, wichtiger Schritt wäre für Spillmann eine umfassende Aufklärungskampagne zu ME/CFS und Long Covid. Denn selbst Ärzte wüssten mit dem diffusen Krankheitsbild nicht immer umzugehen.
Zentral sei aber nicht nur, dass Bevölkerung, Hausärztinnen, Spitäler, Fachstellen und Sozialversicherungen spezifisch zu ME/CFS und Long Covid geschult würden, sondern dass all diese Stellen auch vernetzt zusammenarbeiteten, sagt Spillmann. Je besser das gelinge, desto höher sei die Chance, Betroffene zu stabilisieren und im besten Fall eine Langzeit-Arbeitsunfähigkeit zu verhindern. «Schlecht versorgte Patienten kosten viel mehr», so Spillmann.
Wie hoch die Kosten in der Schweiz sind, die bisher durch das Fatigue-Syndrom und Long Covid entstanden sind, ist nicht bekannt. Anders in Deutschland, wo mehr als 1,5 Millionen Menschen vom Fatigue-Syndrom oder von Long Covid betroffen sind. Forschende der ME/CFS Research Foundation und der Risklayer GmbH haben berechnet, dass ME/CFS und Long Covid allein im Jahr 2024 Kosten von über 63 Milliarden Euro verursacht haben. Rechnet man die Jahre 2020 bis 2024 zusammen, kommen die Analysten auf ökonomische, medizinische und soziale Kosten von etwa 254 Milliarden Euro.
«Die spezialisierte Versorgung von Menschen mit ME/CFS und Long Covid vermindert folglich nicht nur Leid, sondern ist langfristig auch sozioökonomisch ein Gewinn, da viele Sozialleistungen verhindert werden können», sagt Renata Grünenfelder.
Im Kantonsrat zeichnet sich eine Pattsituation ab
Wann das Postulat im Plenum des Kantonsrats beraten wird, ist noch nicht klar. Die Diskussion dürfte aber spannend werden. SP, AL, Grüne, GLP und EVP haben Grünenfelder die Unterstützung zugesagt. Die Fraktionen von SVP, FDP und Mitte lehnen das Begehren ab. Damit stehen sich zwei gleich grosse Blöcke gegenüber, wobei die Linksparteien leicht im Vorteil sind, weil der bürgerliche Ratspräsident nicht mitstimmen wird. Es dürfte sich also an der Präsenzdisziplin entscheiden.
Wird das Postulat an den Regierungsrat überwiesen, hätte dieser zwei Jahre Zeit, einen Bericht und Antrag zum Thema vorzulegen. Bis dann liegt die Strategie des Bundes höchstwahrscheinlich bereits vor. Grünenfelder ist das bewusst. Umso wichtiger sei es, dass der Kanton Zürich sich jetzt bereits mit dem Thema beschäftigte und dann bereit sei, schnell in die konkrete Umsetzung zu gehen.